Der Plan hat mich verlassen, nur der Moment bleibt bei mir





9+1 Schöpfung bellamarthakunsthaus Grafrath Bayern
30.09 - 01.10.2022






"Meine Zeit in Marthashofen war für mich ein ganz besonderes Erlebnis. Obwohl meine Residenz im September stattfinden sollte, reiste ich bereits im April an, um mir die Räumlichkeiten anzusehen und mich auf meine Zeit vorzubereiten.
Ich dachte, dass neun Tage zu kurz seien und hatte ein bisschen Angst, ohne Plan dorthin zu gehen.
Am Tag meiner anreise Erfuruhr ich, dass ich die erste Stipendiatin war, die vorab nach Marthashofen gereist war, um sich vorzubereiten.
Außerdem erfuhr ich, dass fast alle Künstler*innen, die schon hier gearbeitet hatten, nicht ihre ursprünglichen Pläne umgesetzt hatten,sondern sich von der Situation und den Menschen vor Ort inspirieren ließen.
Ich fühlte mich mutiger, ob ich vielleicht die erste Künstlerin zu sein, die Ihr Projekt wie geplant umsetzt.

Während meines Aufenthalts habe ich viel Zeit mit den Menschen vor Ort verbracht.
Mit den Kindern malte und plauderte ich, mit den älteren Bewohner*innen sprach ich beischielsweise über ihre Gedanken und Ansichten über "Schönheit", ein wichtiges Thema meines künstlerischen Schaffens. Diese Gespräche waren sehr erstaunlich und bewegend.
Eine alte Dame erzählte mir von der Zeit, als sie in jungen Jahren viele Brote backen musste.
Eine andere vergaß manchmal, worüber wir gerade gesprochen hatten.
Ein alter Herr sagte mir, dass das Schönste im Leben das Zufriedensein sei.
Während meines Aufenthalts habe ich tief über „die Zeit“ nachgedacht.

Unterm Strich war mein Plan nutzlos.

Aber durch den interaktiven Austausch habe ich neue Wahrnehmungsmöglichkeiten und wichtige intuitive Impulse erhalten. Basierend auf gesammelten Geschichten, Zeichnungen der Kinder, Fotos und Videos und vor Ort gefundenen Materialien entstand eine Installation.






Eines Tages war ich so kaputt, deswegen lag ich einfach auf dem Bett.

In der Decke des Zimmers befand sich ein Fenster, durch das ich die ständig wechselnden Wetterbedingungen beobachten konnte.
Dramatisch zogen die Wolken vorbei und plötzlich setzte Regen ein, während die Sonne unterging. Da es kein Internet im Zimmer gab, hatte ich nichts zu tun und beobachtete einfach das Spektakel.

Plötzlich fiel mir der Titel von Nam June Paiks Kunstwerk "Der Mond ist der älteste Fernseher " ein und ich verstand, was er damit ausdrücken wollte.

Ich machte ein Video von der Szenerie und wollte es auf der Rückseite meiner Skulptur darstellen. Doch seltsamerweise funktionierte das aufgenommene Video nicht. Es schien, als unterstütze der Projektor nur Fotos. Deshalb schnitt ich das Video und erstellte ein Foto daraus.

Ich hatte sozusagen die fließende Zeit in einen einzigen Moment verwandelt, wie aufgeschnittenes Brot.
Manchmal führen unerwartete und schlechte Situationen zu einem besseren Kunstwerk.




Alle meine Kunstwerke sind auf der Grundlage von Geschichten der Bewohner*innen und meiner eigenen Erfahrungen hier entstanden.

Dabei gibt es einige unvergessliche Momente, wie der, als ich Frau F. kennenlernte.

Ich fragte sie nach ihren schönsten Erlebnissen, und sie erzählte mir von ihrem Vater, sang Lieder aus ihrer Kindheit und zeigte mir ihre Kunst. Ich spürte ihre künstlerische Ader, denn sie war selbst eine Bildhauerin wie ich.

Während unseres Gesprächs kam eine Krankenschwester in ihr Zimmer, um eine einfache tägliche Untersuchung durchzuführen. 
Frau F. ging kurz ins Badezimmer und als sie wieder herauskam und mich sah, fragte sie: "Wer sind Sie?"

Ich konnte nicht anders als zu lachen, aber zugleich hatte ich auch Tränen in den Augen. Obwohl sie sich an unsere Treffen nicht mehr erinnern kann, hatten wir viel Freude beim Reden und dieser Moment wird mir für immer in Erinnerung bleiben.






Am letzten Tag in Marthashofen
bot sich mir diese Szenerie wie ein Finale dar.

Nachdem ich alles gepackt hatte,
machte ich noch einen letzten Spaziergang,
um die Schafe auf den Ebenen zu sehen, bevor ich ging.

Es war eine wunderschöne Landschaft, und ich wollte sie ein letztes Mal erleben.

Als ich dort ankam, war ich überrascht, dass sich diese Landschaft ohne Schafe entfaltete
- nur ein Grasfeld, das schon vollständig abgegrast war.

Als alles vorbei war und ich zurückblickte, war es nur dieser deutliche Unterschied, der zeigte, dass die Schafe hier existierten.