Ordinary triangle


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Openstudio, Berlin
25.05.2024


Liebe Gäste,

vielen Dank, dass Sie zu meinem Studio gekommen sind. Ehrlich gesagt hatte ich bei der Vorbere-

itung dieses Open Studios einige Schwierigkeiten. Ich konnte in letzter Zeit kaum an meine Werke

denken und daher nicht viel Zeit im Atelier verbringen, weil ich momentan einen Job habe, um Geld

zu verdienen. Natürlich arbeiten die meisten Künstler nebenbei, um ihren Lebensunterhalt zu be-

streiten. Ich arbeite als Fotograf und habe das Glück, Porträtfotografie zu lieben. Derzeit liefere ich

Fotos an ein koreanisches Parfümunternehmen. Kurz gesagt, ich fotografiere verschiedene Menschen

in Berlin, führe Interviews mit ihnen und schicke diese an das Unternehmen in Korea. Zunächst

fotografierte und interviewte ich die Menschen um mich herum, aber zufälligerweise waren fast alle

Künstler. Nachdem ich einige Fotos und Interviews geschickt hatte, forderte der Firmenchef mich

auf: “Wir brauchen auch die Meinungen gewöhnlicher Menschen.” Ich dachte mir: “Sind nicht alle

Menschen gewöhnlich?”

Die meisten Menschen in meiner Umgebung sind natürlich in irgendeiner Form in der Kunst tätig.

Ein paar Tage später kontaktierte mich plötzlich J. und sagte, er sei kurz in Berlin und wolle mich tr-

effen. J. ist eine Person, die ich in Wolfsburg kennengelernt habe und die bei Volkswagen arbeitet. Ich

dachte, endlich könnte ich einen “normalen Angestellten” fotografieren. Doch als ich J. traf, merkte

ich bereits nach zehn Minuten, dass ich völlig falsch lag. Er lebte ein künstlerisches Leben, wie ich es

bei keinem anderen Künstler je gesehen hatte, und war alles andere als “normal”. Ich machte einige

Fotos von ihm, aber in keinem Moment sah er nicht aus wie ein Künstler. Das brachte mich dazu,

über den Unterschied zwischen dem Beruf des Künstlers und dem künstlerischen Leben sowie über

das, was als “gewöhnlich” gilt, nachzudenken. Kennen Sie den sogenannten “gewöhnlichen Dreieck”?

*Da fast alle Dreiecke einen Namen haben, ist es tatsächlich schwierig, ein wirklich namenloses,

gewöhnliches Dreieck zu finden. Zum Beispiel wird ein Dreieck, bei dem alle Winkel spitz sind,

als spitzwinkliges Dreieck bezeichnet. Hat es einen rechten Winkel, nennt man es rechtwinkliges

Dreieck, bei einem stumpfen Winkel stumpfwinkliges Dreieck. Wenn alle Seiten unterschiedlich

lang sind, spricht man von einem unregelmäßigen Dreieck. Jacques Rouchette, ein Mathematiker,

erforschte, wie man ein solches “gewöhnliches Dreieck” ohne besondere Eigenschaften konstruieren

kann. Das einfachste von ihm entwickelte “gewöhnliche Dreieck” kann wie folgt gezeichnet werden:

1. Zeichne ein gleichseitiges Dreieck.

2. Ziehe von einem Eckpunkt eine Senkrechte zur gegenüberliegenden Seite und

halbiere das gleichseitige Dreieck, dann wirf eine Hälfte weg.

3. Ergänze das resultierende rechtwinklige Dreieck um ein gleichschenkliges

rechtwinkliges Dreieck, bei dem die Länge der mittleren Seite des ersten Dreiecks

die kürzere Seite des neuen Dreiecks bildet.

4. Es entsteht ein Dreieck mit den Winkeln 45°, 60° und 75°.



Jedoch hat das gewöhnliche Dreieck mit den Winkeln 45°, 60° und 75° trotzdem den Namen spitzwinklig-

es Dreieck und kann aufgrund der unterschiedlichen Seitenlängen auch unregelmäßiges Dreieck genannt

werden. Somit ist Rouchettes Forschung letztlich sinnlos.

Der wirklich bemerkenswerte Punkt ist jedoch, dass das “gewöhnliche Dreieck” durch den Namen und

die Eigenschaften, die es erhält, letztlich doch nicht gewöhnlich ist. Was bedeutet also “gewöhnlich”,

“außergewöhnlich” oder “besonders”? Dies berührt das sprachphilosophische Problem, das im Becken-

bach-Paradoxon aufgeworfen wird.*

Was ist also ein gewöhnlicher Mensch? Kürzlich habe ich einen Schauspieler fotografiert. Es scheint, dass ich

bei der Suche nach “normalen Menschen” gescheitert bin. Der Chef könnte denken, dass ich ein sonderbarer

Mitarbeiter bin, der nicht einmal einfache Anforderungen erfüllt.

Ich kam auf diesen Gedanken über das gewöhnliche Dreieck, weil K. und ich vor 12 Jahren das Albumdesign

für die koreanische Band “OKDAL” gemacht haben. Vor kurzem kontaktierten sie mich und fragten, ob

wir das Konzept und die Daten des ersten Albums <28> noch haben, weil sie zum 12. Jubiläum eine Vi-

nyl-Version veröffentlichen möchten. Eines der Symbole, das wir damals verwendeten, war ein Dreieck. Im

Gespräch mit K. entdeckte ich dann das Konzept des gewöhnlichen Dreiecks.

Leben ist in der Tat faszinierend. Es scheint, dass die Dinge, die wir in der Vergangenheit getan haben, und

die Dinge, die wir jetzt tun müssen, uns plötzlich den Schlüssel zu unseren aktuellen Problemen geben. Ich

habe viele Menschen getroffen, konnte mich eine Zeit lang nicht auf meine Werke konzentrieren und bin von

Job zu Job gewandert. Kurz vor der Eröffnung dieses Open Studios landete ich schließlich in meinem chao-

tischen Atelier. Tatsächlich ist das “Open Studio” keine Ausstellung, sondern ein etwas “realistischerer Ort”,

an dem die Künstler arbeiten und den man besuchen kann. Daher habe ich darüber nachgedacht, wie ich

meine Leben und Arbeiten hier am besten präsentieren kann.

Dieser Brief mag ein Trick einer faulen Künstlerin sein, die glaubt, dass sie ihren Gästen, die in ihr Studio

kommen, zumindest eine interessante Geschichte erzählen muss. In meinem Atelier werden einige Fotos der

Menschen, die ich in letzter Zeit fotografiert habe, sowie einige meiner bisherigen Arbeiten in Buchform zu

sehen sein. Vielen Dank an alle, die sich die Zeit genommen haben, mich an diesem Wochenende zu besuch-

en. Ich hoffe, dass Ihnen mein Studio gefällt und Sie es genießen.

Mit freundlichen Grüßen,

MIK NIM

P.S. Wenn Sie denken, dass Sie eine gewöhnliche Person sind, melden Sie sich bitte bei mir. Ich möchte ein

Foto von Ihnen machen. (Aber wahrscheinlich liegen Sie falsch.)